Hereditary
Das Vermächtnis
Familie Graham führt ein beschauliches Leben: Annie ist eine liebevolle Mutter und lebt zusammen mit ihrem Mann Steve und den beiden Kindern Peter und Charlie etwas abgelegen am Waldrand. Als Annies Mutter Ellen, das Oberhaupt der Familie, stirbt, muss sich die Familie mit mysteriösen und grauenhaften Ereignissen auseinandersetzen. Nach und nach kommen die furchterregenden Geheimnisse ihrer Vorfahren ans Licht. Für Annie, Steve, Peter und Charlie beginnt plötzlich ein Wettlauf gegen ihr dunkles und unheilvolles Schicksal, welches ihre Ahnen ihnen hinterlassen haben...
»You never cried as a baby.«
Mit seinem Spielfilmdebüt knüpft Drehbuchautor und Regisseur Ari Aster nahtlos an seine gefeierten Kurzfilme an, die sich ebenfalls um heimische Rituale und Traumata drehten. Der Titel des Films bekommt im Verlauf der Geschichte einen immer kühleren Klang, weil er die Themen Abstammung und Blutlinien in das Reich des übernatürlichen Horrors und noch weiter trägt. »Der Film handelt von Vererbung – dass man sich seine Familie, oder was man im Blut hat, nicht aussuchen kann«, sagt der Drehbuchautor und Regisseur. »Es geht um den Horror, in eine Situation hineingeboren zu sein, die man nicht kontrollieren kann. Für mich ist nichts beunruhigender als die Vorstellung, absolut machtlos zu sein.«
Hereditary beginnt zunächst mit einem grandiosen Spezialeffekt: Die Kamera von Pawel Pogorzelski, Aris Studienkollege am AFI-Konservatorium, gleitet durch Annies Werkstatt, in der sie Miniaturen von Häusern, Räumen oder Szenarien erstellt, die in allen Details (Tapeten, ungemachte Betten, Krimskrams) originalgetreu nach- oder vor-modelliert werden. Schließlich bleibt die Kamera an einem Haus im Querschnitt hängen. Es ist das Haus der Grahams - ihr eigenes. Die Kamera zoomt hinein, in das Zimmer oben links, und als das Bild komplett das Zimmer einnimmt, beginnt der Film mit den Personen der Handlung, die den hernagezoomten Raum betreten...
»Who will take care of me when you die?«
Die Grahams sind eine scheinbar ganz normale amerikanische Familie, die gleich in der Eröffnungssequenz von in großes Leid gestürzt wird, als Ellen Taper Leigh stirbt - Annies Mutter und eigenwilliges Oberhaupt der Familie - eine Figur, deren Vermächtnis im Laufe der Geschichte immer düsterer wird. Jeder der Grahams verarbeitet den Tod auf eigene Weise. Als Annie eine Selbsthilfegruppe besucht, erfahren wir mehr über das Leben und die Hinterlassenschaft ihrer verstorbenen Mutter und Annies Gefühl der Entfremdung ihrer eigenen Familie gegenüber.
Annies Ehemann Steve ist ein gutmütiger Mensch, aber nie besonders präsent. Die meiste Zeit verbringt er in seiner psychotherapeutischen Vorstadtpraxis. Peter, ihr Sohn im Teenageralter, dämmert in der High School durch Diskussionen über griechische Klassiker und zieht mit seinen Kiffer-Freunden in den Pausen Joints durch. Die jüngere Tochter Charlie, die schon rein äußerlich etwas gruselig daherkommt, erhält Förderunterricht und grübelt ansonsten schnalzend in ihrem Baumhaus vor sich hin, wo sie in aller Stille aus Tier- und anderen Kleinteilen verstörende Totems bastelt.
Nachdem die Grahams vorgestellt sind, entwickelt sich der Film ganz schnell zu einer Geistergeschichte, als Annie sich mit Joan anfreundet, einer Hausfrau aus der Nachbarschaft, die ebenfalls um einen kürzlich verstorbenen Verwandten trauert und Annie bei der Selbsthilfegruppe aufsammelt. Sie überredet Annie, mit ihr an einer Séance teilzunehmen und leitet damit die paranormale, zweite Hälfte ein. Wer jedoch weiß, wie gern Ari Aster mit den Erwartungen der Zuschauer spielt und diese ins genaue Gegenteil verkehrt, ahnt bereits, dass auch Herditary absolut unberechenbar bleibt. Immer wieder versteht es der Film, zu überraschen, während sich die Geschichte langsam und unerbittlich entfaltet - dazu bestimmt, dem Publikum mit jeder weiteren Wendung der ausgeklügelten Geschichte den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
»Mir schwebte als Überraschungsmoment so etwas wie meine ganz persönliche „Janet Leigh steigt unter die Dusche“-Vision vor«, beschreibt Ali Aster in Anspielung an Alfred Hitchcocks berühmten Horrorthriller Psycho die Haken, die hier geschlagen werden. In der packenden und furchterregenden zweiten Hälfte geht der Film in eine Richtung, die kaum ein Zuschauer erwarten dürfte. Nur so viel: Die familiären Probleme der Grahams schließen inhaltlich nahtlos an seine beiden Kurzfilme Munchhausen und The strange Thing about the Johnsons an – sorgfältig ausgearbeitete Albträume über die Schrecken des Familienlebens.
Während der Vorproduktion wandte sich der Regisseur an Steve Newburn, einen Spezialisten für visuelle Effekte aus Toronto, von dessen Modellarbeit an Team America: World Police er seinerzeit schwer beeindruckt war. Steve Newburns Kernkompetenz sind Masken und Prothesen. Zu seinen jüngsten Filmen gehören Suicide Squad und die TV-Serie 12 Monkeys. Neben dem Design von Annie Grahams Miniaturen, einschließlich der Dioramen und deren komplizierten Dekors und Designs, sorgte der vielseitige Künstler auch für das Spezialeffekte-Makeup und prothetische Dummys, die während wahnhafter Momente des Films zum Einsatz kommen.
Bevor Steve Newburn die Miniaturen herstellte, die den lebensgroßen Kulissen entsprechen, machten sich Ali Aster und die Produktionsdesignerin Grace Yun daran, die Inneneinrichtung des dreistöckigem Holzhauses der Grahams zu entwerfen und zu bauen - ein Haus, das eine eigenständige Hauptfigur darstellt. Nachdem die Sets gebaut waren, konstruierte Steve Newburn Miniaturversionen des Hauses, dessen viele Zimmer und Gänge sowie ausgefeilten und unverwechselbaren Ausstattung - einschließlich Teppichen, Tapeten und Haushaltskrempel.
»It's a natural view of the accident.«
Der Film ist vage von Ari Asters eigener, von Unglücksfällen und Tragödien durchzogenen Familiengeschichte inspiriert, die man fast schon verflucht nennen möchte. Ari präsentiert sich hier als geborener Autor und meisterhafter Filmemacher, formal präzise, der exakt weiß, was er tut. Seine niederschmetternde Vision, sorgfältig und kunstvoll ausgearbeitet, erinnert an Horrorklassiker der 1960er und 1970er Jahre.
Um das Gefühlsleben Annies, ungeheuer intensiv gespielt von Toni Collette, zu untermahlen, engagierte Ali Aster den Saxophonisten und Avantgarde-Komponisten Colin Stetson, der bereits mit Arcade Fire, Bon Iver, TV on the Radio und Tom Waits im Studio und auf Tour war und zu mehreren Filmen Musik beigesteuert hatte. »Colins Blasinstrumente klingen zutiefst unheimlich«, sagt der Regisseur. »Er spielt nicht nur einfach Saxophon, er verwendet Zirkular-Atmung, Multiklänge und perkussive Ventilgeräusche, was sehr effektiv ist. Beim Schreiben des Drehbuchs hörte ich seine Solo-Alben „New History Warfare 2“ und „New History Warfare 3“. Für mich war sein Sound immer untrennbar mit dem Film verbunden.« Wenn man vor dem Film sitzt, kommt es einem immer wieder so vor, als wenn draußen oder im Nachbarraum/-saal Technomusik läuft oder ein Actionfilm mit satten Bässen läuft. Da die Geräusche aber wiederkehren, merkt man, dass sie zur Filmuntermahlung gehören, was dem Film wiederum eine Art Alleinstellungsmerkmal beschert.
Hereditary - Das Vermächtnis ist kein Horrorfilm, der auf Splattereffekte und explizite Entkomm-Szenarien setzt. Er setzt vielmehr auf subtilen Grusel, auch wenn die den Horror auslösende Unfallszene sehr böse inszeniert wurde! Es sind die nächtlichen Erscheinungen der Toten und die Albträume, die die Grenzen der Realität unterwandern. Spätestens wenn man plötzlich ein vertrautes Schnalzen vernimmt, läuft man Gefahr, ebenfalls Albträume zu bekommen. Ali Aster ist ein Name, den man sich merken sollte, auch wenn Hereditary besonders in der ersten Hälfte langatmig wirkt und die Gesamtlänge von guten 2 Stunden ein wenig zu lang erscheint. ■ mz
13.Juni 2018
Drama/Horror
USA 2017
128 min


mit
Toni Collette (Annie Graham)
Alex Wolff (Peter Graham)
Gabriel Byrne (Steve Graham)
Milly Shapiro (Charlie Graham)
Ann Dowd (Joan)
Mallory Bechtel (Bridget)
Jake Brown (Brendan)
Brock McKinney (Aaron)
Morgan Lund (Mr. Davis)
Jarrod Phillips (Gruppenleiter)
u.a.

drehbuch
Ari Aster

musik
Colin Stetson

kamera
Pawel Pogorzelski

regie
Ari Aster

produktion
PalmStar Media
Metropolitan Filmexport
A24
Finch Entertainment
Wendy Hill Pictures

verleih
universum film


vorspann
Firmen-Logos, Nachruf, Titeleinblendung

abspann
Rücklaufender Vorspann mit roten Buchstaben, die eine Zeile tiefer fallen, dann gewöhnlich rollender Abspann

erwähnung
keine