Ida
© Arsenal
(The Guardian)
Wie beschreibt man einen Film, der so dermaßen unter die Haut geht, der zu tiefem Nachdenken anregt, der mit jedem Einzelnen von uns eine ganze Menge zu tun hat und der unbedingt einem breiten Publikum ans Herz gelegt werden sollte? - Am besten mit einem Zitat, und zwar mit den eigenen Worten des preisgekrönten, polnischstämmigen, seit 1977 in England lebenden Regisseurs Pavel Pawlikowski:
»Ida ist ein Film über Identität, Familie, Glaube, Schuld, Sozialismus und Musik. Ich wollte einen Film über die Geschichte machen, der doch nicht wie ein Geschichtsfilm wirkt, einen moralischen Film, der doch keine Lektion erteilt. Ich wollte eine Geschichte erzählen, in der jede Figur ihre eigenen Gründe hat, in der Poesie wichtiger ist als Handlung. Vor allem aber wollte ich der üblichen Rhetorik des polnischen Kinos entgegensteuern. Ida zeigt Polen aus der Sicht eines Außenstehenden, der mit niemandem eine Rechnung offen hat - ein Polen, dass durch persönliche Erinnerungen und Gefühle gefiltert ist, durch die Geräusche und Bilder meiner Kindheit.«
Polen in den sechziger Jahren. Die 18-jährige Novizin Anna ist im Begriff, ihr Gelübde abzulegen. Bevor sie dieses ablegen darf, hält die Äbtissin es für angebracht, dass die als Waise aufgewachsene Anna ihre letzte Verwandte in der Stadt aufsucht. Ihre Tante Wanda, die Schwester ihrer Mutter, hat sie noch nie gesehen; die Tante hatte den Kontakt abgelehnt.
Das Aufeinandertreffen des behütet aufgewachsenen, religiösen Mädchens und der exaltierten, parteitreuen Richterin, die ein eher lockeres, trinkfreudiges Leben führt, verläuft ohne Annäherung. Wanda eröffnet Anna, dass sie eigentlich Ida heißt und Jüdin ist. Die Eltern wurden während des Zweiten Weltkrieges ermordet.
Keiner kennt die näheren Umstände, auch von den sterblichen Überresten der Verwandten weiß man nichts Genaues. Ida, alias Anna, entscheidet sich, nachzuforschen, dorthin zu fahren, wo ihre Familie einst lebte. Obwohl Wanda mit der Familie offensichtlich abgeschlossen hat, begleitet sie ihre Nichte auf dieser Reise in die dunkle Vergangenheit.
Pavel Pawlikowskis Ida ist viel mehr eine Reise in die Vergangenheit Polens. Das Tabuthema Antisemitismus spielt dabei eine genauso wichtige Rolle wie die gerade beendete Stalin-Zeit. Die bleierne Schwere dieser Jahre wirkt durch die stark kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bilder, gedreht in dem heute fast ausgestorbenen Format 1:1,37 (Vollbild 4:3). Die Bilder erinnern an klassische Schwarz-Weiß-Fotografie, unterlegt mit äußerst sparsam eingesetzter Musik zwischen Chopin und John Coltrane.
Das Casten der Ida führte den Regisseur durch ganz Polen. Keine Schauspielerin oder Schauspielschülerin passte zu der Rolle, der in sich gekehrten Ida, die fast stoisch nach Antworten zu ihrer Vergangenheit sucht. Und auf einmal sieht Pavel Pawlikowski seine Ida in einem Warschauer Café, fotografiert von einer befreundeten polnischen Regisseurin.
Agata Trzebuchowska hat das Gesicht eines ernsten Kindes, doch gleichzeitig eine gewisse Stärke und ruhige Intelligenz. Pawlikowskis Ida wird schließlich von einer Amateurin gespielt, die noch nicht einmal nach dem Dreh Schauspielerin werden möchte, ein Naturtalent. Die Rolle der Tante ist ebenfalls eine Frau von seltener Stärke und Verschlossenheit, aber gleichzeitig das komplette Gegenteil der jungen Ida. Agatha Kulesza hat eine gründliche Theaterausbildung und zieht für die Rolle der schlagfertigen, innerlich zerrissenen, melancholischen Wanda alle ihre schauspielerischen Register.
Der Regisseur sagt in einem Interview, dass sich die beiden Protagonistinnen am Filmset wunderbar verstanden haben. Die erfahrene, alte Schauspielerin nimmt die junge Amateurin an die Hand, wobei sich beide vollends respektieren. So befüllen die ausdrucksvollen Schwarz-Weiß-Bilder des Films zwei grandiose Schauspielerinnen.
Dem Filmemacher Pavel Pawlikowski (Die geheimnisvolle Fremde, My Summer of Love) ist es tatsächlich gelungen, wie in seinem Zitat beschrieben, aus der Sicht eines Außenstehenden, mit dem nötigen Abstand und trotzdem nah genug durch seine persönlichen Erinnerungen gefiltert, einen hochsensiblen Teil Polens Geschichte aufzuarbeiten. Ida ist ein kleines, stilles Meisterwerk in 80 Minuten, mit unaufgeregten Kameraeinstellungen und Bildern, die einem noch lange nachgehen. Ganz großes Kino! ■ bh