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Nymphomaniac


B und Joe auf Männersuche im Zug
© Christian Geisnaes/Concorde
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Der bereits vorab viel diskutierte neue Film von Meisterregisseur Lars von Trier schildert in zwei Teilen wild und poetisch die erotische Lebensreise einer Frau – von der Kindheit bis zum Alter von etwa 50 Jahren. An einem kalten Winterabend findet Seligman in einer kleiner Seitenstraße die halb bewusstlose, offensichtlich zusammengeschlagene Joe. Er nimmt sich ihrer an, bringt sie zu sich nach Hause und pflegt die Frau.

Als sie wieder zu sich kommt und Seligman sie fragt, was passiert sei, erzählt Joe nach einigem Zögern dem fremden Mann ihre Lebensgeschichte. Und dies ist die Geschichte ihrer Sexualität, ihrer zahllosen erotischen Erlebnisse, mutig und albern, lustvoll und quälend, beiläufig und zwanghaft, eine Zumutung und eine Befreiung.

Kapitel 1: Der versierte Angler

Wie wird eine ganz normale Tüte Schoko-Pralinen zum Symbol des sexuellen Erfolgs? Joe und ihre erfahrene Freundin B wetten während einer Zugfahrt, wer von ihnen die meisten Männer verführen kann. Der Wetteinsatz: eine Tüte köstlicher Schokopralinen. Schon bald wird Joe klar: Wenn sie gewinnen will, muss sie ihre verlockenden Köder auswerfen, um die Beute ins Netz zu ziehen – wie ein versierter Angler.

Kapitel 2: Jerôme

„Liebe ist nichts weiter als Lust, ergänzt durch Eifersucht.“ Liebe ist in den Augen der zynischen Nymphomanin zwar nur ein seichtes Gefühl, dennoch wird Joe von Mächten überwältigt, die ihre geharnischten Verteidigungslinien durchbohren. Sein Name ist Jerôme. Er ist es, der sie einst (auf eigenen Wunsch) entjungfert hat. Jahre später wird sie zufällig in der Fabrik seines Onkels als Sekretärin eingestellt, während Jerôme seinen unpässlichen Onkel vertritt. Hier erfährt Joe einen Anflug von Liebe, die sich jedoch nicht entfalten kann.

Kapitel 3: Mrs. H

Bei einer dermaßen langen Liste von Liebhabern verliert man leicht den Überblick. Schon bald muss Joe feststellen, welch unangenehme Folgeerscheinungen sich einstellen, wenn man Nymphomanin ist. Man kann nun mal keine Omelette machen, ohne auch ein paar Eier zu zerschlagen. Als sie eines Abends einen ihrer Liebhaber mit einer Notlüge loswerden will, weil ihr nächster Freiertermin ansteht, hat sie nicht damit gerechnet, dass dieser tatsächlich sofort seine Frau verlässt und diese samt Kindern auch noch auftaucht.

Kapitel 4: Delirium

Delirium: Verwirrung. Wahnvorstellungen. Sinnestäuschungen. Das ist das Kapitel, in dem es um das Ableben ihres Vaters geht, und dass sie bei seinem Tod (direkt nach einem Sexakt mit einem Krankenhausangestellten) keine Gefühle mehr übrig hat. Dieses Kapitel ist dementsprechend auch in Schwarz-Weiß gedreht.

Kapitel 5: Die kleine Orgelschule

Ein Choral-Vorspiel von Bach: Drei Stimmen mit jeweils ganz eigenem Charakter, aber in völliger Harmonie. Mit anderen Worten: VIELSTIMMIG. Die Nymphomanin weiß gleich, worum es geht...und zeigt es uns. Das ist dann auch der sinfonische, polyphone Orgasmus, mit dem der erste Teil endet.

Der Beginn des Films trägt die typische Handschrift Lars von Triers. Erst ist alles schwarz. Man hört Geplätschere, Wasserfluss. Dann kommen Bilder dazu: Es schneit. Schnee taut, wird zu Wasser, das von den Dächern tropft. Wer eine schwache Blase hat, dem könnte dieses minutenlange Geplätschere auf selbige schlagen. Eingebettet in Rammsteins „Führe mich“ beginnt dann die Geschichte - die Rahmenhandlung, in der Joe und Seligman über Sex und die Welt reden, Glaube und Irrglaube.

Lars von Trier schrieb die Dialoge, die vor Konfrontation nur so strotzen. Es wird diskutiert, Meinungen werden verworfen - das Kammerspiel wird immer mehr zu einer Sitzung beim Psychotherapeuten. Das ist herrlich mit anzusehen, witzig, Mitleid erregend, und man verfolgt Joes Geschichten mit Neugier.

Natürlich ist man gespannt auf die im Vorfeld heiß diskutierten Sexszenen, wieviel wovon zu sehen ist. Und tatsächlich gibt es so Einiges zu sehen - Penisse, Vaginas, Brüste...beim expliziten Sex gibt es dann doch schon eine vorgehaltene Hand, einen verschwommenen Filter, dass man den Film dadurch nicht als Porno bezeichnen kann. Es ist eher eine Art Sextagebuch, das den Akt an sich schon fast klinisch darstellt und ihn fast schon uninteressant werden lässt - was wohl auch der Ansatz ist, Joes Dilemma zu verstehen: Immer nur Sex, pure Lust und keine Liebe, die laut ihrer Freundin B die geheime Zutat sein soll.

Man ist stets mitten im Geschehen, Langeweile kommt selten auf. Von Triers Kameramann Manuel Alberto Claro, mit dem er schon bei Melancholia zusammengearbeitet hat, scheint immer den richtigen, ästhetischen Blickwinkel zu finden. Auch die Schauspieler laufen zu Höchstformen auf. Stacy Martin bringt diese Gefühlsleere der jungen Joe hervorragend herüber, Uma Thurman spielt die gehörnte Ehefrau besonders exaltiert - eine Rolle, die sie einfach drauf hat. Besonders charismatisch und sympathisch, und gegen seine bisherigen Rollentypen besetzt, spielt Christian Slater Joes Vater. Das macht dessen Sterbeszene noch einen Tick tragischer und authentischer. Shia LaBeouf als Jerôme, Joes einziger Ansatz von Liebe in ihrem Leben, spielt seine Rolle zwar ganz gut, doch als Unsympath eine unsympathische Rolle zu spielen, ist eigentlich kein Kunstwerk.

Kapitel 6: Die Ost-Kirche und die West-Kirche (Die stille Ente)

Die Ost-Kirche wird oft als Kirche der Freude beschrieben, die West-Kirche als die Kirche des Leidens. Reist man in Gedanken von Rom aus in Richtung Osten, wird man feststellen, dass man sich dabei immer weiter von Schuld und Schmerz entfernt und sich auf das Licht und die Freude zubewegt. Joe aber erfährt, dass Schmerz und Lust sich näher sein können, als man denkt.

Kapitel 7: Der Spiegel

Das Bild, das man im Spiegel sieht, erscheint auf den ersten Blick wie eine exakte Kopie des Objekts, das man betrachtet. Aber das stimmt nicht, da das Objekt immer nur eine spiegelbildliche und damit fehlerhafte Version des ursprünglichen Objekts sein wird. Joe versucht, sich von ihrer Sexualität zu befreien.

Kapitel 8: Die Pistole

Manchmal bleiben einem Dinge verborgen, weil man zu sehr an sie gewöhnt ist. Aber wenn man seinen Blickwinkel verändert, können sie plötzlich eine völlig andere Bedeutung annehmen. Joe beginnt mit zwielichtigen Geschäften, und sie merkt schnell, dass sie in ihrem Leben einige wertvolle Fähigkeiten gelernt hat.

Die Kapitel des zweiten Teils sind gefüllt mit Szenen und Assoziationen, mit spielerischen Verbindungen und überraschenden Themen. So wartet im Kapitel 6 etwa die wahrscheinlich lustigste Szene, in der Joe im Café ein Dutzend langstieliger Löffel in sich verschwinden lässt und den Kellner (Udo Kier in einem Kurzauftritt) rätselnd zurücklässt, als ihr beim Verlassen des Etablissements die Löffel herausfallen...

Etwas unglaubwürdig und ins billigste Klischee driftet von Trier in dem Segment „Die gefährlichen Männer“ ab, in dem Joe Sex mit einem Afrikaner haben will, der aus irgendeinem Grund den ganzen Tag an der Straßenecke gegenüber steht. Als dieser dann mit seinem Bruder ein „Sandwich“ mit ihr machen will, kommt es zu einem Streit, in welchem sie sich an den zwei klischeebehafteten großen Schwänzen vorbei aus der Situation verdrückt. Es kommt zwischen Joe und Seligman zu einer Diskussion über Begriffe wie „Neger“. Während Seligman die politische Korrektheit ernst nimmt, appelliert Joe an die Demokratie der Sprache, die Scheinheiligkeit der heutigen Moralapostel.

Dann geht es ein wenig härter zu, als Joe von ihrer sadistischen Phase erzählt, wie sie sich immer wieder von K (Jamie Bell als sexuell gestörter Frauenschläger) in seinen nächtlichen „Sprechstunden“ fesseln und verhauen ließ. Ich schätze, das sind wohl die Szenen, bei denen einige (größtenteils weibliche) Zuschauer abschalten bzw. den Kinosaal verlassen, besonders bei der bösen (allerdings auch höchst unglaubwürdigen) Szene, in der ihr kleiner Sohnemann, der sich allein in der Wohnung befindet, aus dem Kinderbett klettert und durch die offene(!) Balkontür nach draußen geht und auf ein Podest klettert, um Schneeflocken einzufangen, während Mutti ihrer Begierde nachgeht.

Das war dann das Aus für ihr Familienleben - Jerôme verlässt sie und nimmt den Sohnemann mit. Es folgen Enthaltsamkeit und Selbsthilfegruppe, nur um herauszufinden, dass sie keine psychisch labile Sexsüchtige ist, sondern eine Nymphomanin, die genau weiß was sie will. Ihr Problem ist lediglich der Mangel an Befriedigung. Mit ihrem neu gewonnenen Selbstvertrauen und den neuen Erfahrungen suchte sie sich einen neuen Job und fand diesen als Geldeintreiberin für L (ein klassischer Willem Dafoe), in dem sie sich so richtig austoben konnte.

Eines Tages lag L ihr nahe, die junge P als spätere Nachfolgerin heranzuziehen, mit der sie eine Liebesbeziehung aufbaute. Als sie dann Geld von Jerôme eintreiben soll, lässt sie P den Job übernehmen, was sich schließlich zu Joes Ausgangssituation entwickelt, die dann, wie es sich herausstellt, offensichtlich gerechtfertigt war. Nachdem Joe ihre Geschichte beendet hatte, galt es nur noch, die Rahmenhandlung zu beenden. Doch diese konnte nur ein Ende haben, das auch zu Joes Geschichte passt. Also kommt es zur unausweichlichen Endszene, in der sich der asexuell selbsterklärte Seligman seiner Neugier hingibt und sich die Geschichte mit einem banalen, unbefriedigenden als auch bösen Ende auflöst.

Das 4-stündige Werk wurde für die Kinoauswertung zweigeteilt, während auf der Berlinale das Komplettwerk aufgeführt wurde und hoffentlich auch so als Heimvideo vermarktet wird. Und auch wenn die Freigabe ab 16 Jahre Anderes impliziert, kommt das Werk ungeschnitten in die deutschen Kinos. Mit Nymphomaniac kehrt Lars von Trier nach seinen übernatürlichen Eskapaden in die Realität zurück. Dabei kommt er uns komisch, tragisch, gewalttätig und philosophisch. Das Werk ist dabei jedoch nichts für sanfte Gemüter. Wer die 4 Stunden durchhält, wird das Werk vermutlich unbefriedigt beenden, manch einer eventuell jedoch etwas aufgeklärter. Auf jeden Fall hätte ein zweiter Drehbuchautor gut getan. ■ mz

2. April 2014
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OT: Nymphomaniac
Drama/Erotik
DK/D/F/S/B/GB 2013
117 min (Teil 1)
123 min (Teil 2)


mit

Charlotte Gainsbourg (Joe) Irina Wanka
Stellan Skarsgård (Seligman) Detlef Bierstedt
Stacy Martin (junge Joe)
Shia LaBeouf (Jerôme) David Turba
Christian Slater (Joes Vater) Sven Hasper
Sophie Kennedy Clark (B)
Uma Thurman (Mrs. H) Petra Barthel
Hugo Speer (Mr. H)
Connie Nielsen (Joes Mutter)
Christian Gade Bjerrum (Der Jaguar) Christian Brückner
Felicity Gilbert (Liz)
Ananya Berg (Joe mit 10)
Maja Arsovic (Joe mit 7)
Nicolas Bro (F)
Clayton Nemrow (Mann in der 1. Klasse)
Saskia Reeves (Krankenschwester)

Jamie Bell (K) Nicolás Artajo
Willem Dafoe (L)
Mia Goth (P)
Caroline Goodall (Psychologin)
Jean-Marc Barr (pädophiler Schuldner)
Laura Christensen (Babysitter)

drehbuch
Lars von Trier

kamera
Manuel Alberto Claro

regie
Lars von Trier

produktion
Zentropa Entertainments
Zentropa International Köln
Heimatfilm
Film i Väst
Slot Machine
Caviar Films
Concorde Filmverleih
Artificial Eye
Les Films du Losange

verleih
Concorde

Kinostart:
20. Februar 2014 (Teil 1)
04. April 2014 (Teil 2)